Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Von Mathias Döpfner
Die Leichen sind noch nicht in den Plastiksäcken der Sanitäter
verpackt, die Toten noch nicht gezählt. Aber die Kommentare sind
geschrieben. Die Reden gehalten. Alles ist analysiert. Und es sind die
immer gleichen Beschwörungen. Wir lassen uns unsere europäischen Werte
nicht von Terroristen zerstören. Wir wollen und werden unseren
Lebensstil weiter leben. Die Freiheit wird siegen. Es ist alles richtig.
Es ist alles wichtig. Und es ist doch hilflos. Europa redet sich Mut
ein wie ein Kind, das aus Angst vor dem Gewitter Blitz und Donner
anbrüllt. Europa ist geschwächt. Schlimmer: Europa ist schwach.
Die Sequenz aus "Charlie Hebdo" und den Anschlägen vom Freitag, den 13.
November, ist psychologisch das europäische Nine Eleven. Der Kern wird
getroffen. Der Staat. Die Ordnung. Die Sicherheit. Die Zuversicht, alles
unter Kontrolle zu haben. Das Selbst: Ich hätte auch da auf der Straße
gehen können, sagt man sich, ich hätte auch in dem Konzert sein können.
Und niemand, nichts hätte mir geholfen. Keine Polizei. Kein Staat. Kein
Politiker. Die rohe Gewalt religiöser Fanatiker, gemeiner Mörder steht
über unserer Ordnung. Die Salven der Kalaschnikows, die Detonationen der
Sprengkörper sind stärker als alle Vernunft. Die Verunsicherung, die
von einem solchen Ereignis ausgeht, ist fundamental und stellt die
Politik vor archaische Fragen. Was folgt daraus? Was ändert sich?
Wenige Tage, bevor das Attentat auf "Charlie Hebdo" erfolgte, veröffentlichte
Michel Houellebecq sein Buch "Die Unterwerfung". Erzählt wird die
schleichende Unterwanderung und schließlich Eroberung Frankreichs durch
den islamistischen Fundamentalismus. Am Anfang sind es Anschläge, Feuer,
Bombendetonationen im Zentrum von Paris. Dann zeitgleich erfolgende
Schießereien auf Zivilisten. Langsam ändert sich der Alltag. Die
Miniröcke verschwinden und werden durch lange Gewänder ersetzt. Dann der
politische Coup: Eine muslimische Partei stellt den Staatspräsidenten.
Der Held oder Anti-Held des Buches konvertiert – mehr aus Bequemlichkeit
denn aus Angst – zum Islam. Die Unterwerfung.
Man hat dem Buch Islamophobie vorgeworfen. Das ist absurd. Es ist vielmehr eine
beklemmende – ohne Hass und Vorurteil geschriebene – Fantasie. Die so
beklemmend ist, weil wir immer mehr Spuren in der Wirklichkeit und
Gegenwart entdecken. Mal liest sich das Buch wie ein Menetekel. Mal wie
eine Gebrauchsanweisung, so als hätten die Mordkommandos des IS das Buch
gelesen und gesagt: Was der dekadente Westen literarisch beschreibt,
das setzen wir in die Tat um.
Die westlichen Demokratien stehen vor einer schicksalshaften Frage:
Wie wollen wir unsere vielbeschworene Freiheit verteidigen? Oder
noch archaischer: Unterwerfung oder Kampf? Und wenn Kampf: wie?
Die Flüchtlingskrise und nun die Terrorwelle von Paris sind die
Brandbeschleuniger eines Kulturkampfes, der seit Langem schwelt. Die
nichtdemokratischen Regime dieser Welt sind häufig viril und entschieden
geführt, die demokratischen Gesellschaften oft schwach, unentschlossen
und zaudernd. Russen, Chinesen und die meisten islamischen Staaten
wissen, was sie wollen und setzen das um. Die meisten Demokratien suchen
den Dialog, den Kompromiss und vor allem den Applaus bei der eigenen
Bevölkerung. Übersehen wird dabei, dass der Kanon der eigenen Kultur und
Zivilisation nicht für den Gegner gilt. Während bei uns ein angebotener
Kompromiss als moralische Verpflichtung für die andere Seite empfunden
wird, ebenfalls Zugeständnisse zu machen, empfinden muslimische
Extremisten Kompromisse als Zeichen der Schwäche und also als
Ermunterung.
Die Konsequenz dieser Politik ist Tatenlosigkeit in Syrien. Abwarten
im Iran. Wegschauen in den radikalisierten Teilen Afrikas. Und
Willkommenskultur in Deutschland – ohne Konzept.
Die Fakten der Einwanderungswelle lassen
jeden Menschen, dem der Verstand nicht abhandengekommen ist erkennen,
dass es so nicht weitergehen kann. Millionen von Flüchtlingen pro Jahr
können selbst von der potentesten Wirtschaft und der tolerantesten
Gesellschaft nicht integriert werden. Längst regt sich der Widerstand
bis tief in die linken Milieus hinein. Wenn jetzt allerdings der
Mordrausch von Paris zum Beleg für die Grenzen der Integration benutzt
wird, droht eine Enthemmung rechter und linker Nationalisten und
Rassisten. Die schrankenlose Weltoffenheit von heute ist nur die Vorhut
einer neuen Welle hässlichster Xenophobie. Am Ende stehen Staatskrise
und Ausschreitungen bis hin zum Bürgerkrieg. Die Antwort kann nur eine
Politik der Stärke, der entschiedenen und selbstbewussten Verteidigung
von Rechtsstaat, Demokratie, Religionsfreiheit, Marktwirtschaft und
Menschenrechten sein. Von Entschiedenheit und Stärke aber ist in
Kontinentaleuropa wenig zu spüren.
Wir messen mit zweierlei Maß.
In immer mehr deutschen Hotels liegt ein Koran in der Schublade. In den
arabischen Hotels der Welt sucht man die Bibel vergebens. In die meisten
arabischen Länder und in den Iran darf man nicht einreisen, wenn man
einen israelischen Stempel im Pass hat. In manchen europäischen Ländern
dauert es mit einem arabischen Dokument vielleicht etwas länger bei der
Kontrolle. Aber niemand käme auf die Idee, jemandem die Einreise zu
verbieten, nur weil er in einem Land war, das eine andere Religion hat.
In Israel kommt ein Staatspräsident ins Gefängnis, weil er seine
Sekretärin sexuell belästigt hat, im Iran wird eine Frau gesteinigt,
wenn sie verrät, von einem Mann vergewaltigt worden zu sein. Wie kann
man da auf die Idee kommen, man müsse Verständnis für die andere Seite
haben, die Wahrheit läge in der Mitte? Das tut sie eben nicht.
Die Botschaft von Paris ist: Wir müssen unsere Werte mit allen
rechtsstaatlichen und demokratischen Mitteln verteidigen. Dazu gehört
ein neues Einwanderungsgesetz, das Flüchtlingen aus Kriegsgebieten und
existentieller Not weiterhin Asyl gewährt, aber Wirtschaftsflüchtlinge
und Einwanderer aus sicheren Drittländern konsequent abweist. Und jeden
sofort ausweist, der die Regeln unseres Rechtsstaates missachtet.
Abgesenkt werden müssen auch die monetären sozialstaatlichen Anreize,
die einige Länder Europas zu Magneten für Flüchtlingsströme machen. Noch
wichtiger ist: eine wirklich gemeinsame europäische und
transatlantische Sicherheitspolitik. Eine Politik gemeinsamer Stärke.
Verteidigung mit allen Mitteln des Rechtsstaates und der Demokratie
aber bedeutet eben auch: nur mit diesen Mitteln. Und nicht mit den Mitteln
unserer Gegner. Denn wer die Freiheit mit Zensur oder Folter oder Intoleranz
beantwortet, verrät die Ideale der Freiheit.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass dieser Tage ein aktueller Film und ein
Theaterstück sich auf außerordentlich ernsthafte und suchende Weise mit
diesem Dilemma beschäftigen. Steven Spielbergs Film "Bridge of Spies"
zeigt in der Hauptrolle den Rechtsanwalt James B. Donovan, der als
Verteidiger des sowjetischen Spions Rudolf Abel gegen einen Richter
kämpft, der sich auf übergeordnete Interessen beruft, und so mitten im
Kalten Krieg den Rechtsstaat mit Füßen tritt. Donovan widersteht dem
Druck der Geheimdienste und siegt, indem er die Regeln über die gute
Absicht stellt. Am Ende rettet er beim großen Agententausch auf der
Glienicker Brücke das Leben von mindestens drei Menschen und die Ordnung
der freien Gesellschaft.
Ähnlich in Ferdinand von Schirachs vor Kurzem uraufgeführtem Theaterstück
"Terror". Im Zentrum steht hier ein Gerichtsprozess. Es geht um die Entführung
eines Flugzeuges mit 164 Passagieren, das islamistische Terroristen auf das
während eines Fußballspieles (!) mit 70.000 Besuchern gefüllte
Allianz-Stadion in München lenken. Darf man es abschießen und 164
unschuldige Menschen töten, um wahrscheinlich 70.000 Menschenleben zu
retten? Von Schirach macht die Antwort sich und seinem Publikum quälend
schwer. Das Schlusswort des Richters fällt denn auch entsprechend
unzufrieden aus: "Auch wenn es schwer zu ertragen ist, müssen wir doch
akzeptieren, dass unser Recht offenbar nicht in der Lage ist, jedes
moralische Problem widerspruchsfrei zu lösen." Was sich wie eine
Niederlage anhört, ist in Wahrheit ein Triumph. Es ist der Sieg unserer
Werte über einfache Lösungen. Einfache Lösungen findet man mit Hass und
Bomben. Gute Lösungen nur durch Regeln, die am Ende das Prinzip über die
Absicht stellen müssen. Schirach sagt denn auch: "Terroristen können
unseren Rechtsstaat nicht gefährden, das können nur wir selbst." Und
Verwundbarkeit ist eben auch ein Preis, den man freien Gesellschaften
niemals ganz ersparen kann.
Wenn die Anschläge von Paris,
der Angriff im Herzen Europas, zu einem Weckruf werden für eine Politik
der Stärke des Westens, des wehrhaften Stolzes auf Aufklärung,
Rechtsstaat und Menschenrechte und deren aktive Verteidigung – dann kann
aus dem Schrecken etwas Gutes entstehen. Wenn weiter laviert und
toleriert wird, sind die Opfer von Paris nur die Vorboten der
Unterwerfung. Reden sind genug gehalten. Betroffenheits-Adressen von
muslimischen Verbänden reichen nicht mehr. Die Imame müssen in den
Moscheen Zeichen setzen. Die Politiker in den Parlamenten. Wir brauchen
keinen linken oder rechten Populismus. Sondern eine Radikalisierung der
gesellschaftlichen Mitte. Einer Mitte, die ihre Freiheits-Werte
kraftvoll verteidigt. Wir brauchen die wirklich wehrhafte Demokratie.
Wir brauchen ein starkes Europa. Das sind wir den Opfern und unseren
Kindern schuldig.
Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE